Prolog
Die Revolution
und ihre Kinder –
Ostdeutschland
eine Generation später
Ihre Eltern brachten eine Mauer zum Einstürzen, ein Land zum Verschwinden: Die Kinder der “Revolutionäre” von 1989 haben eine bewegte Familiengeschichte. Doch was bleibt davon – heute – 25 Jahre später? Eine dokumentarische Reise durch ein Land, das ein anderes geworden ist.
Ich eine Revolutionärin? Nein, nein”, winkt Tely Büchner ab. Sie habe getan, was die Zeit erforderte. Im Dezember 1989 ist sie eine von fünf Frauen, die die erste Stasizentrale der DDR in Erfurt besetzen. Damals ist sie mit ihrem Sohn Jacob bereits hochschwanger. 1989 sind es Menschen wie sie, die anfangen, die Angst zu überwinden, die auf die Straße gehen, die politische Gruppen gründen, Stasi-Zentralen besetzen. Abseits der bekannten Gesichter dieser Friedlichen Revolution sind es Tausende DDR-Bürger jener Zeit, die diesen Staat mit zu Fall bringen. Deshalb sagt Michael Stieber, der im Oktober 1989 aus der DDR gen Westen flüchtet, irgendwie seien sie ja alle Revolutionäre gewesen: Jene die flüchten, die demonstrieren, sich verweigern – und damit letztlich die Mauer zum Einsturz bringen. Der Mauerfall von vor 25 Jahren ist Weltgeschichte, der Grundstein für die deutsche und dann europäische Einigung. Doch für viele Menschen gerade in Ostdeutschland ist sie eben schlicht – Familiengeschichte. Ein intimer, ganz privater Teil ihres Lebens.
Mit der Longform-Reportage “Die Revolution und ihre Kinder” begeben wir uns auf die Suche nach Geschichten dieser Revolution; wir reisen durch ein Land, das durch eben jene Ereignisse von 1989 ein anderes geworden ist. Wir besuchen Menschen, die 1989 auf ihre Art Mut bewiesen. Wir wollen deren Geschichte hören – wichtiger noch: Wir wollen wissen, was heute noch von 1989 übrig ist, wir möchten eine Geschichte der Gegenwart erzählen. Die Kinder jener “Revolutionäre” stehen heute, eine Generation nach dem Mauerfall, zumindest hinsichtlich ihres Alters dort, wo ihre Eltern 1989 standen. Wie prägt die Vergangenheit ihrer Eltern deren Leben? Was bleibt vom revolutionären Geist von 1989? Und wie tief reicht die Weltgeschichte in das eigene Leben hinein? Es sind jene Fragen, denen wir auf die Spur zu kommen versuchen. Ganz individuell und persönlich, weil die Revolution von 1989 eben genau das auch ist: Sie ist persönlicher Wendepunkt im wahrsten Sinne, ein Riss in der Biographie, ein Moment, in dem viele unerwarteten Mut beweisen und in dem viel möglich scheint.
Revolutionäre und ihre Kinder
Die Ereignisse von 1989 haben Spuren hinterlassen, auch in den Familien. Eigentlich sind sie alle ja Kinder dieser Friedlichen Revolution: Die Eltern, die 1989 für den Wandel kämpfen und ihr neues Leben in den folgenden Jahren von Grund auf neu gestalten können und müssen, aber natürlich auch die Kinder, die in einem anderen Land aufwachsen und für die die DDR nur noch Erinnerung ist.
“Ich habe sie geliebt: diese Buntheit hinter grauen Mauern”
— Marion Brasch
Marion und Lena Brasch
Marion Brasch hat als einzige ihrer Familie überlebt: Ihre drei Brüder, darunter Thomas Brasch, werden als Schauspieler, Dramatiker und Schriftsteller bekannt, sterben jedoch jung, gezeichnet von einem Leben zwischen Erfolg, Revolte und Exzess. Ihr, der kleinen Schwester, ist das Rebellische ihrer Brüder nie eigen. Und doch: Im Herbst 1989 unterzeichnet sie als eine der ersten die „Rockresolution“ und führt den Aufstand gegen die Programmleitung beim Radiosender DT64 mit an. Sie begehrt gegen einen Staat auf, den ihr Vater Horst Brasch, vormals stellvertretender Kulturstaatsminister, bis zur Selbstaufgabe verteidigt hat.
Ihre Tochter Lena Brasch wird vier Jahre nach dem Mauerfall als gemeinsames Kind von Marion Brasch und Jürgen Kuttner geboren. Die Geschichte ihrer Familie sei für sie auch ein Leitbild dafür, wie aus Reibung und Widerstand künstlerische Energie werde – eine Reibung, die ihr heute oft fehle: “Ich fühle mich manchmal wie in einem Kokon, eingerichtet in einer Welt, in der es keine Mauern zum Gegenlaufen mehr gibt”. Vielleicht hat sie sich gerade deshalb entschieden, in die Fußstapfen ihrer berühmtem Onkel zu treten und ihr Leben der Literatur und dem Theater zu widmen.
“Wir haben damals nicht für uns selbst gekämpft. Es ging ja auch um die Freiheit der Kinder”.
— Tely Büchner
Tely und Jacob Büchner
Keine Zeit für Erinnerung: Tely Büchner initiiert als eine von fünf mutigen Frauen am 4. Dezember 1989 die Besetzung der Stasi-Zentrale in Erfurt. “Wir haben uns soviel erkämpft in dieser Zeit, wir konnten da nicht halt machen”, sagt sie heute über die Ereignisse. Zuvor sind Gerüchte in der Stadt ruchbar geworden, dass im Keller der Staatssicherheit Akten verbrannt werden. So macht sich Tely Büchner, damals hochschwanger mit ihrem Sohn Jacob, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen auf den Weg zum Gebäude in der Andreasstraße. Was als spontane Aktion beginnt, um die Vernichtung von Stasiakten zu verhindern, geht als erste Stasibesetzung im Zuge der Friedlichen Revolution in die Geschichte ein. Nachdem sich die Wirren des Umbruchs gelegt haben, bleibt Tely Bücher weiterhin aktiv: politisch, aber vor allem in der Kunstszene der Stadt. Sie blickt nicht zurück, schwelgt nicht in Erinnerung, redet mit ihrem Sohn Jacob nicht häufig über die Zeit der Friedlichen Revolution. Der Grund: “Ich hatte keine Zeit für Erinnerung, das Leben war ja weiterhin spannend”. Erst nach 20 Jahren trifft sie ihre damaligen Mitstreiterinnen wieder.
Ihr Sohn Jacob, der heute 24 Jahre alt ist, ist von dieser Haltung geprägt. Stolz, den empfinde er schon angesichts dessen, was seine beiden Eltern 1989 geleistet haben. “Wichtiger aber ist doch, die Freiheit, die sie damals erkämpft haben, heute zu nutzen, als ständig zurückzuschauen”, sagt er.
“Eigentlich kann ich doch froh sein, dass meine Tochter nicht mehr genau weiß, wie das mit der Teilung, Honecker und Diktatur so war.”
— Martin Jankowski
Martin und Rahel Jankowski
“Wir haben mit Tee angestoßen und gesagt: Ab jetzt wird alles anders”, sagt Martin Jankowski, wenn er sich an das Ende des 9. Oktober 1989 erinnert. Noch heute erzählt er von jenen Tagen im Herbst 1989 so eindringlich, dass man sich den jungen Martin Jankowski gut auf den Straßen Leipzigs vorstellen kann: Er unter 70 000 anderen Menschen, die für den politischen Wandel auf die Straße gehen und damit die Staatsmacht herausfordern. Für Martin Jankowski werden die Ereignisse um diesen Tag herum zum Zentrum seines schriftstellerischen Schaffens: Er verfasst den Roman Rabet und später eine Schilderung eben jenes 9. Oktober mit dem Titel: “Der Tag, der Deutschland veränderte”. Martin Jankowski selbst hat einiges dazu beigetragen, was an diesem Tag passiert. Bereits seit Anfang des Jahres 1987 ist er in der politischen Opposition Leipzigs aktiv. Zum “Revolutionär” wird er dabei vom Staat selbst gemacht: Seit seinem 17. Lebensjahr wird er mit Zersetzungsmaßnahmen bedacht, darf fortan trotz guten Abiturs nicht studieren, bekommt Schreib- und Auftrittsverbot. Er entscheidet im Januar 1987, sich ganz der politischen Opposition Leipzigs anzuschließen. Als Autor und Sänger unterstützt er die Arbeit oppositioneller Gruppen und versteckt den Umweltaktivisten Michael Beleites, der mit seinen Enthüllungen über die verheerenden Folgen des Uranabbaus international Aufsehen erregt. Ab 1988 ist er maßgeblich an der Organisation der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche beteiligt.
Rahel Jankowski wird 1988 in das Umfeld der Leipziger Opposition hineingeboren. “Es ist schon ein komischer Gedanke, dass schon mein Babygeschrei von der Stasi aufgenommen wurde”, sagt Rahel Jankowski. Und lacht. Seit Kindestagen ist sie umgeben von der Geschichte der DDR. Nicht selten, sagt Rahel heute, sei sie “einfach nur genervt gewesen von den ständigen Geschichten um Stasi & Co”. “Aber heute merke ich natürlich schon, was das auch für mich bedeutet”, sagt sie. Aufgewachsen ist sie sowohl in Berlin bei ihrem Vater als auch bei ihrer Mutter, die heute in Luxemburg wohnt. “Ich bin ein Eurokind”, sagt sie deshalb. Sie arbeitet als Schauspielerin in Berlin und Bern. Die Freiheit, den Mund aufzumachen, dafür kämpft Martin Jankowski. Ein Engagement, das seine Tochter zu schätzen weiß: Die Freiheit, die sie heute genießt, ist damals auch von ihrem Vater mit erkämpft worden.
“Ich war kein Freund des Systems. Aber auch kein Feind, ich war dem System suspekt.”
—Wolfgang Triebe
Wolfgang und Mirjam Triebe
“Ich habe den Staat so richtig kennengelernt”, sagt Wolfgang Triebe aus dem Erzgebirge. Damals, als er 1983 den Waffendienst verweigert, gerät er ins Visier der Behörden, die ihn fortan nicht mehr in Ruhe lassen. Doch als Pfarrer einer kleinen sächsischen Gemeinde engagiert er sich weiter: Für Abrüstung, gegen den ökologischen Raubbau, für mehr Menschlichkeit. Er rennt an gegen die bornierten Verhältnisse im SED-Staat. 1989 gründet er eine Bürgerinitiative in Ostelbien, die abseits des Neuen Forums politisch aktiv wird. Er gründet die Ost-SPD in Sachsen mit, bleibt auch nach der Wende aktiv und streitet für die Belange seiner Region. Das Pfarramt, das ihm zu DDR-Zeiten Schutz bietet, gibt er Mitte der 90er auf: Ihm fehle das Rebellische, das Anarchische in der gesamtdeutschen Kirche, sagt er. Heute ist er arbeitslos.
Die Geschichte seiner Rebellion prägt auch die drei Kinder. Der Aufarbeitungsdiskurs wird am Küchentisch geführt und nicht selten finden sich die Kinder in einer Rolle wieder, in der sie vermitteln müssen zwischen ihren Eltern und deren Ansichten zum untergegangenen Staat. Was bleibt von der eigenen Rebellion, von den Werten, für die man jahrelang gekämpft hat? Wo findet sich eine Familie wieder, deren Leben vom Widerstand bestimmt war, wenn das Objekt des Widerstandes plötzlich fehlt? Das sind die realen Fragen, mit denen die Familie umgeht. Und es sind die Fragen, die ihre Kinder prägen. Mirjam Triebe ist mit der Geschichte des Widerstandes gegen Unrecht aufgewachsen. Sie und ihre Geschwister sind durch diese Gespräche politisiert, aber Mirjam Triebe findet auch: “Wir sollten mehr darüber reden, welches Unrecht auch heute noch geschieht”.
“Naja, wenn es eine Revolution war, dann waren ja irgendwie auch alle Revolutionäre.”
— Michael Stieber
Michael und Kilian Stieber
Die Familie Stieber würde es ohne Mauerfall nicht geben. Denn eigentlich hat sich Michael Stieber schon verabschiedet: von dieser DDR, von seiner Familie, seinen Freunden. Im Sommer 1989 fasst Michael Stieber den Plan, die DDR zu verlassen: nicht unbedingt als Aufstand, eher aus Trotz. Er wolle sich nicht vorschreiben lassen, wo er zu wohnen habe. Zu diesem Zeitpunkt hat er zwei Anwerbeversuchen der Stasi widerstanden und drei Jahre Armeezeit hinter sich gebracht.
Nach zwei gescheiterten Ausreiseversuchen begeht er im Oktober 1989 Republikflucht. Am Tag seiner Abreise nimmt er in seiner Heimatstadt Neubrandenburg noch an der ersten Montagsdemonstration teil. In ihm keimt Hoffnung auf, dass sich hier in der stickig gewordenen DDR vielleicht doch noch etwas ändern ließe. Doch seine Entscheidung ist gefallen. Über Ungarn und Österreich reist er in den Westen, lässt sich dort nieder und ist sich sicher: Seine Heimatstadt Neubrandenburg wird er nie wieder sehen. Als Republikflüchtling gilt er als Staatsfeind. Einen Monat später fällt die Mauer, Weihnachten 1989 ist er zu Besuch in Neubrandenburg, eine Amnestie für Republikflüchtlinge macht es möglich. Dauerhaft zurückkehren in diesen sich auflösenden Staat möchte er nicht. Doch im Urlaub in seiner alten Heimatstadt lernt er seine spätere Frau kennen. Ein Jahr später, im Dezember 1990, wird Kilian Stieber in Neubrandenburg geboren. Der heute 22jährige sagt, die Geschichte seines Vaters sei zwar immer in der Familie präsent, doch erst jetzt, wo er im gleichen Alter ist wie sein Vater damals, begreife er die Tragweite seiner Handlungen. Geprägt habe ihn die Geschichte trotzdem: Als politisch aktiver Mensch vertritt er ähnliche Werte wie sein Vater. Nur dass er das Land, in dem er sich für Freiheit und mehr Menschlichkeit einsetzt, nicht verlassen muss.