Erinnerung

Leben in Schwarz-Weiß

Erinnerung klingt oft nach großen Gesten und großer Politik. Doch eigentlich beginnt sie oftmals viel kleiner, intimer: mit einem Bild, einer Person, die auftaucht, mit der eigenen Geschichte. Für die Familie Stieber ist die Erinnerung an 1989 Teil der Familiengeschichte.

Kilian Stieber
Kilian Stieberwurde kurz nach dem Mauerfall geboren und studiert heute in Hamburg.
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Der heute 22jährige sagt, die Geschichte seines Vaters sei zwar immer präsent in der Familie, doch erst jetzt, wo er im Alter seines Vaters damals ist, begreife er die Tragweite seiner Handlungen.

Schwarz-weiße DDR

Schwarz-Weiß. Das ist die Farbe der DDR. Für Kilian Stieber zumindest ist sie das lange. Die Bilder seines Vaters Michael, der im Oktober 1989 in den Westen flieht, zeigen ihn im Kreise seiner Freunde, bei der Armee, auf Familienfeiern. Aber immer sind diese Bilder schwarz-weiß und damit irgendwie sinnbildlich für die Bilder im Kopf, die viele vom Leben im Osten haben: graue Häuserfassaden, Plattenbauten, Einöde, die ständige Angst vor Überwachungsstaat und Polizeiknüppeln. Doch die Bilder, die Kilian Stieber und mit ihm viele andere Kinder von ihren Eltern gezeigt bekommen, zeigen auch ein anderes Leben: Sie zeigen Alltag, Partys und Freunde. Die Fotos halten einzelne Momente im Leben der Eltern fest: Sie sind geronnene Erinnerung. Fotos zermalmen die Zeit, schreibt der französische Philosoph Roland Barthes. Sie führen uns die Vergänglichkeit vor Augen: “Dies ist tot und dies wird sterben”. Vielleicht erklärt diese Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, die Fotos herstellen, die Melancholie, die viele bei Betrachten alter Fotografien empfinden. Für die Kinder sind sie farblose Boten aus einer Zeit, die sie nicht erlebt haben – und die doch einiges mit ihrem Leben zu tun hat.

Es sind Fotos wie jenes, das Michael Stieber im Kreise seiner Klassenkameraden im Sommer 1985 bei einer Wehrsportübung zeigt, die die Erinnerung wachrufen. Alle Jungen seiner Schulklasse müssen ins Wehrlager ins mecklenburgische Prerow: Eine Woche lang wohnen sie in Kasernen, werden militärisch gedrillt.

“Das ist der Kerker Prerow, der Knast der GST,das ist der Kerker Prerow, der Knast der GST!”

Granaten werfen, marschieren, schießen: Spaß erwartet sie im Sommerlager nicht gerade. Doch Michael Stieber macht das Beste daraus, er dichtet ein Lied – auf die Melodie von “Dem Morgenrot entgegen”: “Das ist der Kerker Prerow”, dichtet Stieber. Die Lehrer versuchen den Jungen das Singen daraufhin zu verbieten – ohne Erfolg. “Das wurde so etwas wie die inoffizielle Lagerhymne”, erinnert er sich.

Es ist eher ein Bubenstreich, als eine große Rebellion – doch diese Anekdote zeigt, welches Verhältnis Stieber zum DDR-Staat aufbaut: “Ich habe ihn einfach nicht ernst genommen, diesen Staat”. Der Staat selbst indes rückt nah heran an die Familie Stieber: Bereits als Michael Stieber 15 Jahre alt ist, soll er der Staatssicherheit Informationen über seine Mitschüler beschaffen. Es ist der erste Anwerbeversuch. Michael Stieber kann ihm entgehen – auch durch den Schutz seines Vaters, der als Arzt bei der Nationalen Volksarmee arbeitet. Die Staatssicherheit unternimmt später einen weiteren Versuch, sich die Dienste Stiebers zu sichern. Es ist 1987, Michael Stieber hat sich zuvor drei Jahre für den Dienst in der Armee verpflichtet. Stieber, der Ansehen in der Truppe genießt und eher als Rebell denn als Angepasster gilt, eignet sich aus Sicht der Stasi gut als Spitzel. Doch Michael Stieber widersteht ein weiteres Mal – auch wenn ihm Konsequenzen angedroht werden.

Anwerbeversuch der Stasi

In seiner Armeezeit zwischen 1986 und 1989 schreibt Michael Stieber hunderte Briefe, klagt seinen Freunden in tausenden Zeilen das Leid der Armeezeit. Die Briefe sind sein Fenster in die Welt, eine kleine Luke in der Enge des militärischen DDR-Drills. Sehnsucht, sagt Michael Stieber, Sehnsucht nach der großen Welt, die habe sie alle begleitet damals: Mit dem Rucksack durch die Welt reisen, Rotwein trinken, Gedichte schreiben – das war das Ideal eines Lebens, das ihnen im starren Gehäuse der DDR-Diktatur verwehrt wird. Was bleibt, ist die Flucht in Gedanken.

Michael Stieber liest aus alten Briefen

Stieber übersteht die Armeezeit. Im Sommer 1989 wird er nach drei Jahren entlassen. Ein Sommer in Freiheit steht ihm bevor. Einige Bekannte und Freunde haben die Stadt, das Land bereits verlassen. Trotzig schreibt er bereits 1988 ein Lied über das Gefühl damals, dass immer mehr Menschen der DDR den Rücken kehren. Der Titel des Liedes: Ausreiseantrag. Gehen will er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. “Das Land blutete aus, das konnte ja jeder sehen. Aber das tat uns eher weh, als dass wir selbst abhauen wollten”, sagt Michael Stieber. Noch im Sommer 1988 singt Michael Stieber: „Geht’s jetzt los, das Gerenne/ Soviele, die ich kenne, jetzt verziehen sie sich“.

Damals denkt Michael Stieber noch nicht, dass er wenige Wochen später seine Heimatstadt Neubrandenburg mit seinem Freund Oliver Richtung Westen verlassen wird. Er hat sich ja eingerichtet in diesem Land, hat sich seine Nischen gesucht; am Kneipentisch unter Freunden wird die Welt seziert, das große Ganze besprochen. Doch irgendwann, vermutlich ist es einer dieser rotweinschwangeren Abende im Sommer 89, denkt Michael Stieber mit seinem Freund Oliver: Warum nicht doch einfach abhauen? Das Land, das ihnen auch Heimat ist, verlassen, aufgeben für ein Leben wie sie es wollen: frei, nicht auf Schritt und Tritt bedrängt vom Staat und seinen Apparaten.

Michael Stieber zu seiner Ausreise 1989

Es sei keine politische Entscheidung gewesen, eher eine aus Trotz: „Ich wollte mir nicht vorschreiben lassen, wie und wo ich zu leben habe“, sagt Michael Stieber. Also fassen sie den Entschluss, per Zug nach Ungarn zu reisen, um dort über die “Grüne Grenze” nach Westdeutschland auszureisen. Seit dem August 1989 haben bereits Tausende DDR-Bürger diesen Weg der Ausreise gewählt.

Weltgeschichte in der Familie

Es ist eine Heldengeschichte, die Michael Stieber seinen beiden Söhnen erzählen kann. Aufregend irgendwie. Auch rebellisch. Er lässt sich nicht ein auf dieses System, widersteht der Stasi, haut ab. “Er hat ja einen Sinn für Rhetorik und erzählt gerne, also haben wir die Geschichte schon ziemlich oft zu hören bekommen”, sagt sein Sohn Kilian Stieber. Er ist mit dieser Geschichte aufgewachsen, irgendwann in der Schule kommen dann die größeren Zusammenhänge dazu. Wie bei Familie Stieber sind es jedoch zumeist nicht die großen Geschichten, nicht die große Politik, die an den ostdeutschen Küchentischen verhandelt werden, vielmehr die kleinen, privaten Geschichten: die erste Liebe, der erste Urlaub auf dem Bauernhof.

Über welche Geschichte wird in den Familien gesprochen? Lena Brasch, Rahel Jankwoski und Kilian Stieber erinnern sich.

Wie erklärt man seinen Kindern, wie die eigene Geschichte in einem Land verlaufen ist, das selbst nur noch in den Geschichtsbüchern existiert? Nicht selten werden die Lücken in der eigenen Geschichte mit Schweigen gefüllt. Der ganz große intergenerationelle Aufarbeitungsdiskurs in Sachen DDR scheint noch nicht stattgefunden zu haben. Für jene, die die Wende unbeschadet überstehen und sich in den Jahren zuvor nicht schuldig gemacht haben, mag es oft leichter fallen, ihre Version der DDR-Geschichte zu erzählen.

Die Geschichte der DDR ist eigentlich eine aus 17 Millionen Geschichten. Oder mehr. Für die Kinder jener, die diesen Staat mit- und überlebt haben, stellt sich die Frage, was an alle dem eigentlich richtig und was falsch ist. Oder eher: Welcher Version der Geschichte sollen sie trauen? Anders als für viele Kinder, deren Eltern im Westen aufgewachsen sind, ergibt sich für die ehemaliger DDR-Bürger immer wieder ein Widerstreit zwischen Lebenswelt und System: Wie können sie die Geschichten vom Erleben ihrer Eltern und das Wissen um Unrechtsstaat und Diktatur zusammenbringen?

Schulwissen über die DDR und die eigene Erinnerung: Nicht immer geht das zusammen, sagen auch Kilian Stieber, Lena Brasch und Mirjam Triebe.

Die Erinnerung an die DDR ist in vielen Familien Teil der eigenen Saga. Die Kinder – selbst in der vereinigten Bundesrepublik aufgewachsen – tragen irgendwie einen Teil davon mit sich herum. So ist die DDR-Geschichte und die Geschichte seiner Familie für Kilian Stieber nicht mehr nur schwarz-weiß. Sie ist Teil seiner ganz eigenen, lebendigen Geschichte geworden.

Klar ist das eine Geschichte, die ich gerne erzähle.

—Kilian Stieber

Der Mauerfall: Beginn der Familiengeschichte

Nachdem Michael Stieber im Oktober 1989 über Ungarn nach Westdeutschland flüchtet, landet er in Aschaffenburg, Bayern. Sein Freund und Mitflüchtling Oliver hat dort entfernte Verwandtschaft. Die beiden finden Arbeit, lernen Freunde kennen und richten sich in ihrem neuen Leben im Westen ein. An eine Rückkehr denken sie nicht. Republikflüchtlingen ist eine Reise in die DDR ohnehin fast unmöglich. Den Abend, als in Berlin die Mauer fällt, verbringt Michael Stieber im Bett. Als Arbeitskollegen ihn am nächsten Morgen mit dem Auto abholen, sagt einer von ihnen: „Ey, deine Leute haben die Mauer aufgemacht“. Stieber hatte von jenem Ereignis, das später als Mauerfall Weltgeschichte schreiben wird, nichts mitbekommen: „Ich dachte nur: Ach Quatsch, lasst mich schlafen“.

Auch als sich im Laufe der nächsten Wochen abzeichnet, welch ungeheure Tragweite dieser Tag hat, plant Michael Stieber nicht, in seine Heimatstadt Neubrandenburg zurückzukehren. Im Dezember 1989 schließlich besucht er sie doch. Dabei lernt er Kristina, seine spätere Frau, kennen. Ein Jahr später wird Kilian geboren. Der Mauerfall – ein Jahr vor Kilians Geburt – es ist die Geburtsstunde der Familie Stieber.