Familie

Aufwachen im vereinten Deutschland

1989 war ein politisches Erdbeben – für ganz Europa. Doch auch für viele Familien ist die Friedliche Revolution 1989 ein Ereignis mit großer Tragweite. Die Geschichte der DDR und ihres Endes – sie ist auch Familiengeschichte.

Das Missverständnis der Generationen

Der Mauerfall wird für die Familie Brasch zum Beginn ihres Verschwindens. Im August 1989, als die Auflösungserscheinungen in der DDR schon deutlich spürbar werden, stirbt Horst Brasch. Seine Frau Gerda, die zeitlebens unter der steilen DDR-Karriere ihres Mannes leidet, ist da bereits 14 Jahre tot. Bis zum stellvertretenden Kulturstaatsminister steigt Horst Brasch auf und selbst seine Familie ist er bereit zu verraten. Die DDR ist sein Leben. Der tiefe Bruch, der die Familie fortan geprägt hat, ereignet sich 1968. Im Westen gehen junge Menschen gegen den Mief der Nachkriegsgesellschaft  auf die Straße. In Ostdeutschland herrscht indes eisiges Schweigen. Doch als die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in Prag einmarschieren und den Prager Frühling niederschlagen, regt sich auch in der DDR vereinzelt Widerstand.

Mit dem Ende des tschechoslowakischen Versuchs eines “Sozialismus mit menschlichen Antlitz” endet auch in der DDR für viele die Hoffnung, der Sozialismus ließe sich zum Guten reformieren: ein wenig mehr Luft zum Atmen, ein bisschen mehr Farbe im realsozialistischen Alltag, mehr Freiheit. Am 21. August besetzen sowjetische Truppen die CSSR und beenden die friedlichen Reformen. Die DDR-Führung unterstützt die brutale Niederschlagung, nennt sie in ihrer Propaganda “Hilfsmaßnahme der Bruderstaaten”. Vor allem für viele junge Menschen in der DDR begegnen dem Einmarsch der Sowjets mit Entsetzen. An vielen Orten der DDR werden Losungen an Hauswände geschrieben und Flugblätter verteilt, in denen der tschechische Reformversuch gefeiert wird: “Es leben das rote Prag” oder “Hoch Dubcek” ist auf ihnen zu lesen. Allein in Berlin registriert das Ministerium für Staatssicherheit 389 Flugblattaktionen und 272 Losungen an Hauswänden und Mauern. Unter den Protestierenden sollen viele Kinder aus staatstreuen Elternhäusern sein. Ein Fanal für die SED.

Marion Brasch
Marion Brasch Im Herbst 1989 unterzeichnet sie als eine der ersten die „Rockresolution“ und führt den Aufstand gegen die Programmleitung beim Radiosender DT64 mit an.
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Ihre Tochter Lena wird vier Jahre nach dem Mauerfall als gemeinsames Kind von Marion Brasch und Jürgen Kuttner geboren.

Damals, im Herbst 1968, ist der jüngste Sohn Horst Braschs, Thomas, 23 Jahre alt. Er verteilt Flugblätter gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Er protestiert gegen das starre Gehäuse der DDR-Gesellschaft und rebelliert damit auch gegen die harte Hand seines Vaters. Eine Rebellion aus Liebe, nicht aus Hass, sei das gewesen, sagt Marion Brasch, jüngstes Kind der Familie. Ihr Bruder und mit ihm viele andere, die sich damals politisch einbringen, wollen eine andere, bessere DDR. Als Thomas Brasch wegen des Verteilens von Flyern gegen den Einmarsch in Prag ins Visier der Polizei gerät, versteckt er sich im elterlichen Haus. Sein Vater Horst Brasch muss sich zwischen der Treue zu seiner DDR und der Liebe zu seinen Söhnen entscheiden. Er entscheidet sich für den Verrat an seiner Familie: Er liefert seinen Sohn Thomas den DDR-Behörden aus.

„Ich sah Krieg in der Familie. Knallende Türen waren Alltag und die wurden aus politischen Gründen geknallt“ — Marion Brasch

Thomas wird festgenommen und zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, muss allerdings nur gut zwei Monate davon absitzen. Marion Brasch ist damals sieben Jahre alt, für sie gerät eine Welt ins Wanken: Der Bruder im Gefängnis. Und der eigene Vater sieht nicht nur zu. Er unterstützt es.
„Ich sah Krieg in der Familie. Knallende Türen waren Alltag und die wurden aus politischen Gründen geknallt“, sagt Marion Brasch. In diesen Tagen wird in ihrer Familie wie im gesamten Staat ein Missverständnis offenbar, das die DDR bis zu ihrem Ende prägt.

Die Söhne gegen die Väter?

Marions Braschs Tochter Lena wird 1993 geboren, die DDR und ihren Großvater lernt sie niemals kennen. Als ihr Onkel Thomas Brasch stirbt, ist sie erst 8 Jahre alt. Und doch ist die Geschichte ihrer Familie sehr präsent: Lena hospitiert am Theater, möchte Regie studieren. Der Name ihrer Familie und insbesondere Thomas Braschs ist in diesen Kreisen ein Begriff. Sie verstehe nicht, wie der Kommunismus zur Religion ihres Großvaters werden konnte, sagt die 21-jährige Lena Brasch. Für Horst Brasch bedeutet die Rebellion seines Sohnes Thomas in jenen Tagen 1968 nicht nur den ersten schwerwiegende Riss in der Familie, sie kostet ihn auch die weitere Karriere innerhalb der DDR-Führung. Ein Funktionär, dessen Söhne oppositionell aktiv werden, ist nicht mehr vertrauenswürdig. Für Thomas Brasch beginnt mit dem Verrat des Vaters und der Verfolgung durch den Staat 1968 der lange Abschied von der DDR. 1976 verlässt er die DDR Richtung West-Berlin.

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Nach einem sehr rasanten Höhenflug als Autor und Regisseur folgt der Absturz. Es fehlen ihm, sagt er, im Westen die Mauern, gegen die er rennen könne. Sein monumentales Werk über den Frauenmörder Brunke kostet ihn ein Jahrzehnt wütender, aufzehrender Arbeit. Zeit seines Lebens fühlt er sich zerrissen zwischen “seiner DDR”, der er sich fortwährend verbunden fühlt, und seinem Leben in West-Deutschland, das ihm Obhut bietet – auch vor der Verfolgung der DDR-Behörden.

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.

—Thomas Brasch

Die Familie – Brennglas der Geschichte

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit all ihren Schrecken und Verwerfungen, aber auch all ihren überraschenden Wendungen spiegelt sich auf tragische Weise in der Familiengeschichte der Braschs wider. Wegen seiner jüdischen Herkunft geht Horst Brasch während der NS-Zeit ins Londoner Exil, wird dort zum überzeugten Sozialisten, engagiert sich für die KPD. Nachdem er gemeinsam mit seiner Frau und seinem ältesten Sohn Thomas 1946 in die Ostzone übersiedelt, wird er hoher Funktionär in der entstehenden DDR. Die DDR wird für ihn nicht nur Zuhause, sondern stein- und fleischgewordene Utopie. Eine Utopie, der er alles unterzuordnen bereit ist. Seine Söhne finden weder in der Familie, noch im Staate DDR ein Zuhause. Sie rebellieren gegen das starre Gehäuse der Diktatur, sie lehnen sich auf gegen ihren Vater.

„Was sich im kleinen in dieser Familie abgespielt hat, hat sich im großen in diesem Land abgespielt“ — Marion Brasch

Immer dazwischen: das jüngste Kind der Familie, Marion. 16 Jahre jünger als ihr ältester Bruder Thomas, immer noch sechs Jahre jünger als ihr dritter und jüngster Bruder Peter. Marion Brasch ist heute mit ihrer Tochter Lena, die vier Jahre nach dem Mauerfall geboren wird, die einzige der Familie Brasch, die überlebt hat. Sie, deren Sache die Rebellion nie war, fühlt sich oft zerrieben zwischen den Fronten in ihrer Familie, die eben auch die Fronten in der DDR sind.

Das Große spiegelt sich im Kleinen

Marion Brasch entscheidet sich gegen die Rebellion – sie steht nicht auf gegen die Verwerfungen im Staat, gegen die Unterdrückung, die auch ihre Brüder trifft. Sie findet sich zurecht, richtet sich ein, sowohl in ihrem Verhältnis zur SED-Diktatur, als auch innerhalb der Familie. Geprägt ist Marion Brasch dabei auch von dem Gefühl, etwas richtig machen zu müssen, was ihre Brüder nicht tun. “Ich wollte es meinem Vater recht machen, für ihn trat ich auch in die SED sein”, sagt sie. Marion Braschs Haltung zur DDR, die mehr von Opportunismus als von Rebellion geprägt war, ist damit auch Ergebnis ihrer Familengeschichte.

Wie Millionen andere

Marion Brasch – eine späte Revolte

Spät, nicht zu spät tritt Marion Brasch aus dem langen Schatten ihres Vaters. Es ist ihre erste Rebellion. Im September 1989 unterzeichnet sie die Resolution der Ostmusikern gegen die verknöcherte DDR-Politik und zieht nicht zurück, als es der Redaktionsleiter bei dem DDR-Jugendsender DT64, wo sie als Musikredakteurin arbeitet, ihr eindringlich nahelegt. Die Resolution fordert ein Einlenken der Staats- und Parteiführung, wirft ihr unerträgliche Ignoranz vor. Die Staatsmacht reagiert erwartungsgemäß harsch – kann die Verbreitung der Resolution bei Konzerten und Veranstaltungen aber nicht verhindern. Rund 30 000 DDR-Bürger, schätzt die Staatssicherheit selbst, hören in den folgenden Wochen eine Lesung der Resolution auf einem Konzert. Für Marion Brasch ist diese Unterschrift ihr persönlicher Beginn in eine aufregende Umbruchszeit. Bei dem Rundfunksender DT64, der so etwas die die Pop- und Propagandawelle für junge DDR-Bürger ist, bricht die Rebellion los. Die Redakteure des Senders setzen eigenhändig ihre Sendeleitung ab und bestimmen eine neue aus ihren eigenen Reihen. “Das war eine wahnsinnig spannende Zeit, alles schien möglich. Dieser Wildwuchs, diese Freiheit – das gab es später nie wieder”, erinnert sich Marion Brasch heute.

Das Verschwinden dieses Landes fällt fatalerweise zusammen mit dem Verschwinden meiner Familie.

— Marion Brasch

Das Große im Kleinen

Marion Brasch wollte die Geschichte ihrer Familie, die eben auch die Geschichte eines untergegangenen Landes ist, für ihre Tochter aufschreiben, die den Großteil dieser Familie nicht mehr kennenlernt. Ihr autobiographischer Roman “Ab jetzt ist Ruhe – Geschichte meiner fabelhaften Familie” ist das Ergebnis dieses Wunsches. Es ist ein sehr persönliches Buch, in dem die Geschichte ihres Landes allenfalls im Hintergrund spielt. Für Marion Brasch ist das Schreiben an ihrem Roman wie der Abschied von ihrer Familie – eben so als wolle sie sagen: ab jetzt ist Ruhe.

Marion Brasch liest das Ende ihres Buches 'Ab jetzt ist Ruhe'

“Die Familie stellt als Erinnerungsgemeinschaft ein Relais zwischen biographischer Erinnerung auf der einen und öffentlicher Erinnerungskultur sowie offiziellen Geschichtsbildern auf der anderen Seite dar”, schreibt der Soziologe Harald Welzer. Die Familiengeschichte, die täglichen, kleinen Legenden und Erlebnisse, verbinden also das große Ganze mit dem eigenen Leben. Und so ist das Geschichtsverständnis der Kindergeneration vor allem durch den Blick der Eltern auf die Geschichte der DDR geprägt. Für Lena Brasch, die bekennt, dass für sie Geschichtsbuch und die Familiengeschichte zwei weit auseinander liegende Welten sind, ist die DDR-Geschichte vor allem eine der “Buntheit hinter grauen Mauern”. Was sie interessiert, ist Musik, Kunst, Theater. In ihrem Bild von der DDR scheint indes wenig Platz für Unterdrückung und Verfolgung.

Lena Brasch über ihre ambivalente Sichtweise auf die DDR

Die Revolution: Ein Geschenk an die Familie

In den vergangenen 25 Jahren hat sich das Land, in dem sich vor 25 Jahren eine Revolution ereignet, rasant verändert – mit ihr die Familien. Die Chancen, die die Generation der heute 20- bis 25jährigen hat, sind auch Ergebnis der Revolution. So wie für Marion Brasch mit dem Zusammenbruch der DDR die eigene Familie verschwindet, ist für andere das Ende der Diktatur der Beginn ihrer ganz eigenen Familiengeschichte. Viele derer, die 1989 auf die Straße gehen oder Versammlungen organisieren, sind damals Mitte zwanzig und die Aussicht auf ein vorgezeichnetes Leben in der DDR treibt sie auf die Straßen. Sie stellen sich die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstandes in dieser Situation neu: Ihr Widerstand gegen das SED-Regime könnte ihren Kindern jede Zukunft verbauen, sollte er scheitern. Gleichsam kann eine Revolution ihren Kindern neue, unbekannte Freiheiten ermöglichen. Die Familie selbst wird zum Bezugspunkt dieser Revolution.

Familie und Revolution