Revolution

Fünfzig Mauern, oder keine – von der Möglichkeit eine Revolution anzuzetteln


Die Mauer stand nicht nur an den Rändern des Landes, teilte nicht nur Berlin, sondern legte sich auch auf die Gesellschaft selbst. Für die Generation der Revolutionäre ist das Durchbrechen der Mauer ein hart erkämpfter Glücksfall geworden. Die Kinder indes suchen noch: nach ihrer Mauer, ihrer historischen Aufgabe.

Revolutionär wird man nicht

Martin Jankowskis Rebellion beginnt mit einem Aufnäher; 1982 ist er 17 Jahre alt, trägt einen grünen Parka und darauf einen Sticker mit dem Slogan “Schwerter zu Pflugscharen”. Das Bild auf dem Stoffaufnäher zeigt eine Skulptur im Garten der UNO in New York. Die UdSSR hatte sie den Vereinten Nationen 1954 geschenkt, um sich damit offiziell und bildlich zur “friedliche Koexistenz mit dem Klassenfeind” zu bekennen. Als Symbol für den Widerstand gegen eine zunehmende Militarisierung und Aufrüstung wird das Zeichen in den 80er Jahren vor allem von der Friedensbewegung in Ostdeutschland genutzt.


Schwerter zu Pflugscharen

Für die DDR-Behörden entwickelt sich daraus eine heikle Situation: Junge DDR-Bürger tragen das Bild eines sowjetischen Denkmals auf dem Arm, um gegen die Militarisierung der DDR-Gesellschaft zu protestieren. Nach anfänglicher Zurückhaltung entschließen sich die Sicherheitsapparate auf kirchliche Stellen und vor allem auf die Jugendlichen Druck auszuüben: FDJ-Leiter und Lehrer führen mit tausenden Jugendlichen Gespräche, mahnen, drohen, strafen. Wegen eines Aufnähers, der eine sowjetische Losung kopiert. Für nicht Wenige ist diese Auseinandersetzung die erste harte Mauer, gegen die sie im DDR-System rennen und für viele entwickelt sich aus einer jugendlichen Provokation rund um einen Stoffaufnäher eine handfeste Auseinandersetzung mit den staatlichen Machtmechanismen, die nicht selten der Beginn einer ernsthaften oppositionellen Denkweise wird.

Die normale Bevormundung
Martin Jankowski
Martin Jankowski ist seit 1987 in der politischen Opposition Leipzigs aktiv.
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Ab 1988 ist er maßgeblich an der Organisation der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche beteiligt. Heute lebt er als Autor in Berlin.

Als Martin Jankowski 1965 in Greifswald in eine “Umsiedlerfamilie”, so die offizielle Bezeichnung der aus Schlesien Vertriebenen, geboren wird, ist die Mauer gerade fertig errichtet. Walter Ulbricht sitzt fest im Sattel, die DDR scheint sich zu konsolidieren. Er wächst in einem Umfeld auf, das sich mit dem Staat zu arrangieren bereit ist, soweit dies nötig ist. Ein Arrangement aus Bequemlichkeit, nicht aus ideologischer Überzeugung. Martin Jankowskis Eltern sind praktizierende Katholiken und qualifizieren sich dadurch im religionsverachtenden Arbeiterstaat nicht gerade als Systemstütze. Umso stärker versucht sich Martin Jankowski in einer systemkonformen Jugend. Mit 14 hält er zwei Reden: auf seiner Firmung und auf seiner Jugendweihe.

Zum Revolutionär wird er eigentlich erst durch die staatlichen Behörden gemacht. Sie sehen in dem jungen Mann einen Widerständler. Die Staatssicherheit belegt Martin Jankwoski schon als 17jährigen mit Zersetzungsmaßnahmen: Sie verweigern ihm das Studium, später bekommt er als Musiker Auftrittsverbot. 1987 trifft er den Entschluss, sich gänzlich der oppositionellen Szene in Leipzig zu widmen. Er tritt weiter mit Protestliedern auf, organisiert oppositionelle Treffen, beteiligt sich an der Ausrichtung der Friedensgebete in der Nikolaikirche.

70 000 deutsche Spießbürger gehen auf die Straße. Mahatma Ghandi oder Martin Luther King wären stolz darauf gewesen.

— Martin Jankowski 

Tely Büchner
Tely Büchner initiiert die Besetzung der Stasi-Zentrale in Erfurt.
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Nachdem sich die Wirren des Umbruchs gelegt haben, bleibt Tely Bücher weiterhin aktiv: politisch, aber vor allem in der Kunstszene der Stadt.

Die DDR der 1970er und 1980er Jahre ist ein Land, in dem man bequem leben kann; die “eingemauerte Generation” genießt einen im Vergleich zu ihrer Elterngeneration gestiegenen Lebensstandard, westliche Konsummuster finden auch bei ihnen beschränkt Einzug. Allerdings müssen sie die Einschränkungen der Presse-, Bewegungs-, Meinungs- und Reisefreiheit dazu akzeptieren. Häufig wird diese Generation auch als “entgrenzte Generation” bezeichnet: Während sich die Jugend in jener Zeit immer stärker an westlichen Idealen orientierte und deren Popkultur lebt, bleibt das wirtschaftliche und politische System erstarrt. “Wir hatten eine glückliche Kindheit, eine gute Jugend. Aber wir wussten natürlich auch um all die Unfreiheit”, sagt Tely Büchner. Politik und Gesellschaft erfahren keine weitere Liberalisierung. Ein Generationenwechsel in der Nomenklatur des Staates scheint aussichtslos. Die DDR-Diktatur sieht sprichwörtlich “alt aus”. In einer repräsentativen Studie im Frühjahr 1989 unter DDR-Jugendlichen befinden drei von vier Befragten, dass “ihr Beitrag zur weiteren Entwicklung der DDR nicht gebraucht” wird, zwei Drittel finden, ihre “ehrlich Meinung” sei in der DDR nicht gefragt. Es ist diese weit verbreitete Stimmung, gerade unter den jungen DDR-Bürgern, die sich 1989 entlädt.

Die Zeit war einfach reif

Ich bin froh, das überwunden zu haben und meine Tochter denkt: Mensch, ‘ne Revolution

— Martin Jankowski 

Leipzig 1989

Im kollektiven Bewusstsein in Deutschland steht der 9. November als der Tag des Mauerfalls stellvertretend für die Errungenschaften der Friedlichen Revolution. Natürlich: Begonnen hat diese Revolution früher; sie war getragen von Tausenden, die die DDR verließen, von anderen, die von Rostock bis Suhl in den Kirchen zusammenkamen und auch von Menschen, die still ihren Protest äußerten. Für Martin Jankowski ist der entscheidende Tag dieser Revolution der 9. Oktober in Leipzig: “Das war der Tag, der Deutschland veränderte”.

“Der 9.Oktober ist einer der wichtigsten Tage der deutschen Geschichte. Und er wird zu Unrecht vernachlässigt.” – Martin Jankowski

In der sächsischen Stadt hatten sich schon in den vergangenen Wochen erst Hunderte, dann Tausende zum montäglichen Friedensgebet zusammengeschlossen. Angefangen hatten die später berühmten Montagsdemonstrationen als stiller Zug von der Kirche zur naheliegenden Straßenbahnhaltestelle, im September kommt es erstmals zu einem größeren Demonstrationszug auf dem Innenstadtring in Leipzig. Die Wirkung ist immens: Plötzlich scheint es vorstellbar, die Staatsmacht herauszufordern, die gesellschaftlichen Mauern überwinden zu können. In den kommenden Wochen nehmen immer mehr Menschen an den Demonstrationen teil. Am 9. Oktober läuft die Organisation der Montagsdemonstration auf Hochtouren. Es wird diskutiert und abgewogen, beschwichtigt und schließlich entschieden: Das Friedensgebet und der anschließende Marsch finden statt, obwohl niemand weiß, wie die bewaffneten Truppen reagieren werden.

LVZ

Seit Tagen kursieren Gerüchte und Andeutungen in der Stadt – über mit scharfer Munition bewaffnete NVA-Soldaten, Blutkonservenvorräte in Krankenhäusern und andere Gewaltszenarien. In der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht ein Kommandeur der Betriebskampfgruppen einen Aufruf, den Sozialismus auch mit Waffen vor den Konterrevolutionären zu verteidigen. “Die Chinesische Lösung” – das ist es, was viele befürchten. Das Massaker auf dem “Platz des himmlischen Friedens” in Peking, wo die chinesische Staatsführung eine Demonstration brutal niederschlug, gilt vielen als realistisches Schreckensszenario. Der 9. Oktober 1989 ist für Martin Jankowski ein Tag der Angst und der Hoffnung. In dieser Nacht ist zumindest ihm klar: Das ist das Ende des Lebens, wie wir es kannten. In anderen Teilen des Landes sieht man dies skeptischer.

Anfang Oktober kam etwas in Bewegung

Ein großes Gefühl von Freiheit

Nicht alles wird an diesem 9. Oktober erkämpft. Auch nach dem 9. November, dem Tag als die Mauer als sichtbarstes Symbol der Diktatur fällt, gilt es, noch viele kleine und große Kämpfe auszufechten. Die Euphorie der ersten großen Erfolge, das Gefühl, dass dieser verhasste Staat zu wanken beginnt, gibt vielen damals die Kraft, etwas zu wagen. “Es war wie ein großer Sog, da stoppt keiner auf halbem Weg. Nichts wollten wir uns mehr vorschreiben lassen”, sagt Tely Büchner heute. Am 4. Dezember 1989 zählt sie zu den fünf Frauen, die in Erfurt die erste Stasibesetzung im Land organisieren.

Andreasstraße bearbeitet (1 von 1)

Die Stasizentrale in der Erfurter Andreasstraße ist in jenen Tagen ein hochummauerter Hassort, umringt von Stacheldraht, inmitten der pittoresken Fachwerkaltstadt Erfurts. Hinter diesen Mauern liegt auch im Dezember 1989 noch das symbolische Herz der SED-Diktatur. Tely Büchner und ihre vier Mitstreiterinnen initiieren den Sturm auf die Zentrale der Staatssicherheit; bewaffnet nur mit der Euphorie dieser Revolutionstage. Was sich an diesem Tag in Erfurt abspielt, zeigt gut, welche Stimmung damals wohl in der ganzen Republik herrscht.

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    Bürger sortieren gesicherte Stasiakten, vorne im Bild Tely Büchner. (Quelle: Archiv Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt)

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    Bürger diskutieren mit Stasi-Beamten vor der Zentrale. (Quelle: Archiv Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt)

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    Bürger sortieren gesicherte Stasiakten (Quelle: Archiv Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt)

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    Leiter der Stasi-Zentrale Generalmajor Schwarz im Gespräch mit den Besetzern. (Foto: Sascha Fromm)

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    Im Keller der besetzten Stasizentrale: Bürger zeigen verbrannte Akten.

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    Tely Büchner im Computerraum der Stasizentrale (Foto: Sascha Fromm)

In diesen dunklen Dezembertagen wird ein Gerücht in der Stadt ruchbar: Aus den Schornsteinen der Stasizentrale in der Andreasstraße steigt schwarzer Rauch auf, Akten sollen verbrannt werden. Drei Frauen klingeln an Tely Büchners Tür. Ihr Plan ist einfach und irgendwie genial: Möglichst viele Bürger sollen zusammengetrommelt werden, friedlich wolle man sich Zugang zum Stasigebäude verschaffen und die Aktenberge als Vermächtnis der Diktatur vor ihrer Vernichtung schützen. Und: Sie informieren die politischen Instanzen der Stadt, die Presse, schließlich die Staatsanwaltschaft. Der Schritt hin zu den Repräsentanten dieses untergehenden Staates erzählt eine Menge über das gewachsene Bürgerverständnis in jenen Wochen. Die Frauen sagen schlicht: Das ist jetzt unser Recht, wir wollen in die Erfurter Zentrale der Staatssicherheit. “Das war für uns keine demütige Frage, sondern eine Feststellung”, sagt Tely Büchner über die Unterredung mit der Staatsanwaltschaft. Mit aller Vehemenz, die vielleicht nur solchen Tagen des Umbruchs eigen ist, setzen die Frauen eine Lawine in Bewegung. In den Außenstellen sowie in der Hauptstelle der Andreasstraße versammeln sich Menschen, erst nur ein Dutzend, später mehr. Sie betreten die Höhle des Löwens, haben Angst, aber halten nicht inne. Am gleichen Tag werden auch die Stasizentralen in Rostock und Leipzig besetzt. Der Mut, der diese Taten möglich macht, vielleicht ist er so etwas wie das Erbe des 9. Oktobers: Das Gefühl dem Staat die Stirn bieten zu können.

Das Gefühl von Freiheit

 Eine Revolution ist viel zu wenig

Die große Euphorie der Tage im Herbst des Jahres 1989 weicht bei vielen Protagonisten dieser Revolution dem Gefühl der Ernüchterung. Sie, die dem Staat die Stirn geboten haben, sind plötzlich nicht mehr die bestimmenden Kräfte des Wandels. Auf den Straßen ist aus dem Slogan “Wir sind das Volk” schnell “Wir sind ein Volk” geworden: Bis heute dauert die Kontroverse an, wie der Slogan mit der Forderung nach einer raschen Wiedervereinigung so schnell die Straßen dominieren konnte. Für viele Vorkämpfer der Friedlichen Revolution geht es 1989 um etwas anderes: Sie wollen sich einbringen, ein Land gestalten, eine bessere Zukunft bauen. Die Wiedervereinigung haben die meisten von ihnen nicht im Sinn. Der schnelle Stimmungsumschwung, aber auch die Unfähigkeit der DDR-Opposition, ihre politischen Visionen, ihre Idee von einem “Dritten Weg”, politisch mehrheitsfähig zu machen, enttäuscht viele derer, die gegen das DDR-Unrecht auf die Straße gegangen sind. Vielleicht ist der 18. März 1990, der Tag der ersten demokratischen Volkskammerwahlen in der DDR, das historische Pendant zum 9. Oktober: ein Tag, an dem nicht die Euphorie, nicht der Glaube an eine gemeinsame Idee obsiegt, sondern der Pragmatismus. Überraschenderweise gewinnt an jenem Tag die Allianz für Deutschland, ein Wahlbündnis aus der ehemaligen Blockpartei CDU sowie der Deutschen Sozialen Union und dem Demokratischen Aufbruch, die Wahl.

Wir hatten eine andere Idee von der Revolution
Rahel Jankowski
Rahel Jankowski wird 1988 in das Umfeld der Leipziger Opposition hineingeboren.
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Aufgewachsen ist sie sowohl in Berlin bei ihrem Vater als auch bei ihrer Mutter, die heute in Luxemburg wohnt. “Ich bin ein Eurokind”, sagt sie deshalb.

Natürlich: Die weltpolitische Lage, die knappen Zeithorizonte, auch die Mehrheit der Bürger – all dies erschwert einen anderen Weg als den der raschen Wiedervereinigung. Und letztlich ist wohl jeder Revolution gemein, dass keinesfalls das maximale Ausmaß an Utopie verwirklicht wird, sondern am Ende der Pragmatismus siegt. Vielleicht gehört es ja auch zur seltsamen Dialektik dieser Revolution, dass eben Sozialisten diesen Sozialismus stürmen: für die Freiheit, den Mund aufzumachen.

Die Kinder der Revolutionäre sitzen heute staunend am Tisch, lauschen den Geschichten der Revolution. Ihre Probleme sind heute ganz andere: Nicht die Kargheit eines vorgezeichneten Lebens will bekämpft sein, sondern die schiere Unendlichkeit von Möglichkeiten. Nicht ein bornierter Staat und seine Organe maßregeln Kleidungsstil und Auftreten seiner jungen Bürger, stattdessen scheint es – bei allen offensichtlichen Missständen – keinen Gegner mehr zu geben, gegen den es anzukämpfen gilt. Martin Jankowskis Weg in die Opposition beginnt mit einem lapidaren Stoffaufnäher, der die bornierten DDR-Verhältnisse bereits zum Schwingen bringt. Diese Art der Subversion ist heute bei H&M zu kaufen und empört niemanden mehr. Für seine Tochter Rahel wie für viele andere ihrer Generation stellt sich schlicht die Frage: Wo steht eigentlich die Mauer, gegen die wir laufen können?

50 Mauern oder keine