Heute

Vom Verschwinden einer Himmelsrichtung?

Die friedliche Revolution liegt 25 Jahre zurück: Jene, die 1989 auf die Straße gehen, haben heute etwa so viel Zeit ihres Lebens in einem vereinigten Deutschland verbracht wie in der DDR. Die Kinder der Revolutionäre, die den politischen Wandel kaum mehr mitbekamen, sind heute erwachsen. Was also bleibt von der Friedlichen Revolution – heute, 25 Jahre später?

Second-Hand-Geschichte

Mirjam Triebe
Mirjam Triebe wurde politisiert durch die Gespräche am Küchentisch.
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Sie studierte unter anderem Journalismus in England und lebt heute in Erfurt.

Manchmal”, sagt Mirjam Triebe, “denke ich auch: Ich will davon jetzt einfach nichts mehr hören. Lass uns über etwas anderes sprechen”. Mirjam ist 27 Jahre alt und ihre Jugend ist trotz Wende irgendwie geprägt von der DDR, von den Geschichten des Vaters, der sich im Kampf gegen das System aufgerieben hat, aber auch vom Streit ihrer Eltern darüber, was vom untergegangene Staat und dem eigenen Widerstand, dem plötzlich der Gegenstand fehlt, bleibt. Manchmal erscheint ihr die DDR wie ein nostalgischer Film, eine Aneinanderreihung spannender, manchmal gruseliger, nicht selten grotesker Geschichten. Den Diskurs um die DDR, um Unrecht, Widerstand und Revolution hat sie am Küchentisch mitbekommen, ihre Lebensrealität ist eine ganz andere: nicht eingekerkert im engen SED-Staat, sondern ein Auslandsjahr in Irland, das Studium in England. Mirjiam ist heute etwa so alt wie ihr Vater zur Zeit der Wende, doch sie lebt in einem anderen Land, das sich wie zufällig am Ort des Landes ihres Vaters befindet. Und dennoch: Sie weiß um das Erbe ihres Vaters, um die Bedeutung seines politischen Kampfes für ihr Leben: “Auch für mich ist es ein bedeutender Wendepunkt, mein Leben wäre fundamental anders verlaufen”, sagt sie.

Er inspiriert mich dazu, Dinge nicht hinzunehmen

Es wäre übertrieben zu sagen, die DDR-Geschichte sei auch die der heute etwa 25jährigen. Es ist vielmehr ihre Second-Hand-Geschichte: geliehen von den Eltern, die besten Stücke herausgesucht, eingebaut in die eigene Identität. 25 Jahre nach der Vereinigung erscheint es vielen befremdlich, nach ostdeutschen Eigenheiten bei der Generation der heute etwa 25jährigen zu suchen. Was sollte das verbindende Element sein? Die Lebensverhältnisse in Jena sind andere als in der mecklenburgischen Provinz. Das Thema DDR-Geschichte wird in Familien der ehemaligen DDR-Nomenklatur anders verhandelt, als in Familien, deren Eltern in der Opposition aktiv waren. Doch es gibt so etwas wie ein gemeinsames Erbe, etwas, das über Nudossi und Florena hinausgeht – eben weil Geschichte in ihren Familien immer schon präsent war: durch Bilder, Erzählungen, Emotionen. Es gibt keine ostdeutsche Wendegeneration, aber es gibt die gemeinsame Erfahrung.

Gibt es ein Ost-Erbe für die Generation der heute 25-jährigen?

Meine Kinder werden aufrecht durchs Leben gehen können. Das ist das größte Geschenk.

— Wolfgang Triebe

Eine Revolution, die es wert war

Wolfgang Triebe
Wolfgang Triebe verweigert 1983 den Waffendienst.
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Als Pfarrer einer kleinen sächsischen Gemeinde engagiert er sich weiter: für Abrüstung, gegen den ökologischen Raubbau, für mehr Menschlichkeit.

Wolfgang Triebe muss nicht lange überlegen: Ob es sich gelohnt habe, sich im Kampf gegen die DDR aufzureiben? Natürlich. Er hat den Staat so richtig kennengelernt, hat gegen ihn gekämpft. Wurde bekämpft. Heute, 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution, sitzt Wolfgang Triebe in seinem Zimmer im Haus seiner Familie in Schneeberg im sächsischen Erzgebirge. Nüchtern betrachtet könnte man sagen: Die Wende hat ihm nicht nur Gutes gebracht.

Der studierte Theologe gibt Mitte der 90er Jahre sein Pfarramt auf. Ihm fehle das Rebellische an der wiedervereinigten Kirche. Seine Ausflüge in die Politik bleiben eher erfolglos. Ein paar Jahre versucht er sich als Trauerredner. Heute ist er arbeitslos und lebt wieder in Schneeberg, in jener Kleinstadt im Erzgebirge, in der er aufwuchs. Verantwortung, Freiheit, Glaube: Es sind große Worte, die Wolfgang Triebe wählt, wenn er von seinem Verhältnis zur DDR spricht. Als gläubiger Mensch ist ihm eine gewisse Distanz zum religionsfeindlichen System in die Wiege gelegt. “Ich weiß nicht, ob ich ein Revolutionär war, aber ein Rebell – das war ich immer schon. Und das werde ich bleiben”, sagt Wolfgang Triebe heute.

Als er 1983 zur Armee eingezogen wird, geht er freiwillig zu den berüchtigten Bausoldaten; einer Kompanie für Waffenverweigerer und Aufsässige. Triebe ist irgendwie beides und zettelt 1985 einen wilden Streik gegen die Arbeitsbedingungen im Regiment an. Als Strafe muss er mehrere Monate ins Gefängnis. Die Ereignisse politisieren ihn. Er bringt sich immer mehr ein. 1989 gründet er abseits des Neuen Forums eine eigene Bürgerbewegung, organisiert als Pfarrer Friedensgebete und Protestmärsche. Noch 1989 ist er einer der Gründungsmitglieder der Ost-SPD in Sachsen.
Fragt man Wolfgang Triebe, wofür er damals gekämpft habe, fällt vor allem ein Wort häufig: Verantwortung. Verantwortung vor allem für seine Familie: “Meine Kinder sollten nicht in der Massenpsychose aufwachsen”.

1989 – das war ein Erdbeben für die Familien. Für mich war die Wende dann auch erst Mitte der 90er vorbei.

— Martin Jankowski

Was soll das sein: Ostdeutsche Eigenheit?

Für die Elterngeneration ist die Frage nach Ostidentität und dem, was bleibt, Teil ihres Lebens. Die Generation der Eltern wurde vollständig in der DDR sozialisiert. Heute, im Jahr 2014, ist ihr Leben allerdings symmetrisch: Sie haben zumeist ebenso lange im vereinten Deutschland gelebt wie in der DDR. Überstrahlt die Herkunft, die DDR-Geburtsurkunde, dennoch all das, was in den vergangenen Jahren geschehen ist? Der Journalist Michael Pilz fragt sich: “Ich weiß nicht einmal, ob es stimmt, dass ich die DDR zwar verlassen habe, ohne den Ort zu wechseln, aber sie für immer in mir trage wie ein Rapper sein Getto.”

Tragen wir die DDR in uns wie ein Rapper das Getto?

Martin Jankowski indes hält das Gerede vom Verschwinden des Ostens für falsch; sein Roman “Rabet” trägt daher auch den Untertitel “Vom Verschwinden einer Himmelsrichtung”. Er kann nicht glauben, dass das, was die Menschen im Osten verbindet, nach 25 Jahren einfach verschwunden sein soll.

Vom Verschwinden einer Himmelrichtung?

Der Diskurs über den Osten hat sich gewandelt: Ost – das ist kein Wort mehr, das zur Degradierung taugt. Es klingt nicht mehr nach Nachwendefrust. Das Land, wird häufig gesagt, wird von Angela Merkel und Joachim Gauck angeführt und das sei ja das Zeichen, dass der Osten angekommen sei. „Sie haben Erfolg, gerade weil sie einmal alles aufgeben mussten“, hat der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel einmal gesagt. Dabei haben sie, wie so viele ehemalige DDR-Bürger auch, weitergemacht. Haben ihren Karriereschwung aus der DDR einfach mitgenommen.

Marion Brasch, die 1989 beim Jugendsender DT64 selbst die Rebellion gegen die Programmleitung anführt, geht 1993, als der Sender abgewickelt werden soll, für das Radio auf die Straße. Es nützt nichts und trotz alledem: Sie macht einfach weiter. Als Radiomoderatorin und Autorin ist sie heute im vereinten Deutschland angekommen. Michael Stieber findet durch den Mauerfall erst seine große Liebe und macht später da weiter, wo er aufgehört hat: als Lebenskünstler. Er studiert, bricht ab, jobbt. Heute ist er Politiker im Landkreis “Mecklenburgische Seenplatte”. Es gibt andere Geschichten. Zuhauf. Wolfgang Triebe findet, wie so viele ehemalige DDR-Oppositionelle, keinen Anschluss in der Politik Nachwendedeutschlands und verzweifelt an der gesamtdeutschen Kirche. Martin Jankowski, der seine künstlerische Energie in der Auseinandersetzung mit der Diktatur gewinnt, fehlt plötzlich der Widerstand und die schier unendlichen, kaum verstandenen Möglichkeiten des nun geeinten Landes hinterlassen auch Verwerfungen: “1989 – das war ein Erdbeben für die Familien. Für mich war die Wende dann auch erst Mitte der 90er vorbei”, sagt er.

1989 war ein Erdbeben für die Familien

Die Kinder der Revolution als heimliche Revolutionäre?

Die Wirren der Nachwendezeit – die haben viele Kinder in den 90ern hautnah miterlebt. Auch darüber kann man 25 Jahre nach dem Mauerfall sprechen. Ebenso über die Verantwortung der eigenen Eltern, Lehrer, Verwandten, über deren Rolle in der Diktatur. Doch zum 25. Jahrestag dieser Revolution ist es seltsam still im Land. Wo ist der Aufarbeitungsdiskurs um die DDR-Vergangenheit von Eltern und Lehrern? Wo die Auseinandersetzung mit den strukturellen Vermächtnissen der DDR heute in Ostdeutschland? Wo die Debatte um die Wende- und Nachwendepolitik, die gerade Ostdeutschland nicht nur Gutes gebracht hat? Es gibt kein ostdeutsches Mininatur-68, keine Auseinandersetzung mit der eigenen Elterngeneration, keine radikale Kritik am Bestehenden. Vielleicht ist es so seltsam ruhig, weil ein richtiger Gegner fehlt: Ist es ein westdeutsch dominierter Diskurs oder sind es doch die eigenen Eltern? Vielleicht liegt es schlicht an dem Gefühl der Kindergeneration, von Möglichkeiten schier erschlagen zu werden oder dem Gefühl, die Sicherheit verloren zu haben. Die alte 68er-Generation war eine Generation der Aufsteiger, die ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfen wollte und gegen die bornierten Verhältnisse auf die Straße ging. Das Gefühl der Generation der Wendegeborenen scheint eher zu sein: Wir werden es nicht so leicht haben wie unsere Eltern, die sich zwar die Freiheit erkämpfen mussten, aber deren Leben von weniger Unsicherheit geprägt war. Die Generation derer, die in den 90ern groß werden, ist in eine Zeit großer Unsicherheit hineingewachsen: Erst die politisch-sozialen Verwerfungen der Wendezeit, dann 9/11, Fukushima, das Gefühl, dass alle sozialstaatlichen Versprechungen für sie nicht mehr gelten. Das hat diese Generation pragmatisch gemacht. Der Soziologe Klaus Hurrelmann hat für die Generation Y der heute 15-30 jährigen den Titel der “Heimlichen Revolutionäre” gefunden: ohne große politische Visionen verändert sie ihr Umfeld – die Art, wie sie leben, arbeiten, konsumieren. Dass diese Haltung tatsächlich “revolutionär” ist, dieser Beweis steht noch aus.

Auf die Kinder der Revolution trifft diese Beschreibung vielleicht umso besser zu: Die Geschichte ihrer Eltern hat sie politisiert, aber sie ist auch eine Bürde, sie suchen noch nach ihrem großen Thema, nach dem historischen Moment. “Uns fehlt ja irgendwie der Gegner”, findet Lena Brasch. Das Gefühl, die Gesellschaft selbst gestalten zu können, was sich die Elterngeneration 1989 mühsam erkämpft, das scheint den “Kindern der Revolution” abhanden gekommen zu sein. Sie sind frei, aber eben auch zur Freiheit gezwungen – auf der Suche nach ihrer Möglichkeit, sich einzubringen in dieser Welt.

Was sollte das sein: Revolution heute?